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Das ZDF-Politbarometer

Die Realität von Umfragen

Einmal im Monat präsentiert das ZDF die Ergebnisse von jeweils neuen repräsentativen Umfragen zur Einstellung der Deutschen hinsichtlich Parteien, Politikern und zur aktuellen politischen Lage: das sogenannte „Politbarometer“, mittlerweile ein stehender Begriff. In der Regel ist das Stimmungsbild laut Umfrage eine mehr oder weniger getreue Wiedergabe dessen, was man ohnehin Tag für Tag und Woche für Woche in der Fernsehberichterstattung an Themen und Meinungsbeiträgen vorgesetzt bekommt. Bei den Sachthemen gibt es daher nur selten Überraschungen.

Die Sympathischsten – sind sie auch die Besten?

Auf besonders Interesse stößt die Kategorie Politiker-Ranking. Das Politbarometer präsentiert diesbezüglich eine Rangfolge der 10  beliebtesten Politiker nach Sympathie und Leistung. Es ist nicht ganz klar, wie denn diese 10 Politiker von den vielen anderen ebenfalls prominenten und oft auch sehr wichtigen und einflussreichen politischen Akteuren unterschieden werden. Jedenfalls findet man auf der Internetseite des ZDF und des Partners „Forschungsgruppe Wahlen“ dazu wenig Aussagekräftiges. Abgesehen davon ist man immer wieder erstaunt, wer es hier auf die ersten Plätze schafft.

Über Jahre hinweg hatte Angela Merkel Platz 1 im Politbarometer gebucht. Auch da fragte man sich schon, wie das sein konnte, angesichts der zahllosen verbrieften Schwurbelsätze und der vernunftwidrigen Mischung aus Nichtstun und „Das Falsche tun“. Offenbar war es ihr gelungen, genau dieses Konzept zu ihrem Markenkern zu machen. Medial war sie damit ziemlich erfolgreich, wie das Politbarometer belegt. Vorne war stets die Marke „Angela Merkel“. Ihr Tun und Lassen konnten wenig an ihrer Beliebtheit ändern, auch wenn im Rückblick ihr politisches Wirken von den Medien sehr viel kritischer gesehen wird. So ist das: Gestern wurde sie hofiert und wider alle Vernunft mit einem Heiligenschein versehen, heute will’s keiner gewesen sein.

Wie dem auch sei, das ist nun alles Schnee von gestern. Nach dem Abtreten Merkels kämpft ein neues politisches Führungspersonal um die Spitzenplätze. Und es scheint so, dass die Rangfolge im Politbarometer eher noch weniger von Sachthemen und konkreten Leistungen und eher noch mehr von Sympathien und vorgefassten Meinungen bestimmt wird.

Wenn du geschwiegen hättest, Annalena

Es ist ein mittlerweile bekanntes Muster: Außenministerin Baerbock redet auf einer Veranstaltung und gibt irritierende Statements ab die alles Mögliche sind, nur nicht diplomatisch und schon gar nicht klug. Nur einige Beispiele: „Das wird Russland ruinieren“ (auf dem EU Außenministertreffen im Februar 2022); „Deutschland wird für immer auf russische Energie verzichten“ (Besuch in Kiew im Mai 2022); „Egal, was meine Wähler denken“ (EU Außenministertreffen im September 2022); „Waffenlieferungen helfen, Menschenleben zu retten“ (Interview in der FAZ im September 2022). Und nun also „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“ (vor dem Europarat im Januar 2023).

Man wundert sich schon gar nicht mehr. Nicht über Baerbock, nicht über die Grünen, nicht über die Ampelregierung und auch nicht über Bundeskanzler Scholz, der das alles so laufen lässt. Das politische Personal ist seiner Aufgabe erkennbar nicht gewachsen. Baerbock, Habeck und die gottlob zurückgetretene Lambrecht sind nur die Spitze des Eisbergs. – Hat das Einfluss aufs Politbarometer?

Umfragen spiegeln nicht die Realität, sondern die Medienlandschaft

Wundern muss man sich allerdings schon über die Ergebnisse des ZDF-Politbarometers, die regelmäßig Baerbock, Habeck und Scholz auf den ersten Plätzen sehen. Sie sind nach Meinung des Publikums also besonders sympathisch und bringen die beste Leistung. Na ja, Sympathie kann man in Umfragen sicher leicht messen, es ist aber nicht wirklich eine relevante politische Kategorie für das Land. Aber die beste Leistung? – Da reibt man sich ungläubig die Augen.

Entweder die Umfrageergebnisse sind manipuliert – was ich dem ZDF nicht unterstellen möchte – oder den Befragten fehlt es an Urteilskraft. Vielleicht sind sie auch nur falsch informiert oder glauben der oberflächlichen Berichterstattung in den Medien und gehen den vielen regierungsfreundlichen bzw. den Grünen äußerst wohlgesonnenen medialen Meinungsbeiträgen auf den Leim. Jedenfalls zeugt die Rangfolge des ZDF-Politbarometers kaum von einer kritischen Haltung der Regierung und den führenden Politikern gegenüber.

Man könnte es auch so formulieren: Der Wähler bekommt das, was er gewählt hat und verspürt offenbar wenig Lust, sich darüber zu beklagen. Es bringt ihm ja auch nichts, weil er die Malaise selbst verursacht hat.

ZDF Politbarometer vom 27. Januar 2023. Die beliebtesten Politiker nach Sympathie und Leistung (Plätze 1 – 5).
ZDF Politbarometer vom 27. Januar 2023. Die beliebtesten Politiker nach Sympathie und Leistung (Plätze 6 – 10).

Schlechte Leistungen schützen nicht vor guten Umfragewerten

Was genau wäre denn angesichts der obigen Latte von Fehltritten der Außenministerin eine noch schlechtere Leistung, die sie aus dem Politbarometer kicken könnte? Von Wirtschaftsminister Habeck, der nicht weiß, was eine Insolvenz ist und den sein Amt sichtlich überfordert, ganz zu schweigen. Und der über allem thronende Nichtentscheider Scholz, was könnte er tun, um weniger hervorzutreten.

Da fällt einem nichts ein. Alle drei performen stabil auf einem Leistungsminimum. Wie kann man sie also von der Spitze verdrängen? Am einfachsten ist es wohl bei Scholz. Er ist ja schon beinahe unsichtbar, wenn man nun noch sein Namen konsequent nicht mehr nennt, ihn praktisch totschweigt, so wird er binnen 14 Tagen völlig in Vergessenheit geraten. Er ist dann raus aus dem Politbarometer.

Schwieriger ist es bei Habeck und Baerbock. Muss Habeck eventuell die Energie weiter verknappen, indem er einen Gasspeicher leerlaufen lässt oder einen Flüssiggastanker versenkt? Ach, das wird nicht helfen. Am Ende rechnet man ihm das noch als Maßnahme zum Klimaschutz an.

Und Baerbock? Was, wenn sie China den Krieg erklärt und das Land der Mitte zu ruinieren droht, das dann aber dazu führt, dass wir keine Smartphones mehr bekommen und die Exporte einbrechen? Oder, wenn sie erläutert, dass feministische Außenpolitik vor allem meint, immer eine Kosmetiktasche dabei zu haben. Aber nein, das wird nichts ändern. Die vorderen Plätze im Politbarometer stehen über derlei kleinlichen Urteilen. Man wird dann sagen, sie sei falsch verstanden worden. Natürlich sei Kosmetik nur Camouflage, darunter aber stecke der Feminismus den man von außen, also außenpolitisch betrachtet, nicht sehe. Und genau diese inneren Werte seien es, für die Baerbock als Außenministerin stehe.

Sympathie ist wichtiger als fachliches Können und rhetorische Brillanz

Es erscheint kaum möglich, Habeck und Baerbock in der Wählergunst abrutschen zu lassen, jedenfalls nicht auf der Basis objektiv messbarer Kriterien. Das Hinterfragen der Leistung geht offensichtlich ins Leere. Versuchen wir‘s also mit der Sympathie, also damit, die beiden weniger sympathisch erscheinen zu lassen. Baerbock könnte sich einen Oberlippenbart tätowieren lassen, die Haare kurz schneiden und sie grün färben. Dazu vielleicht noch einen Nasenring und ein Panzer-Tattoo auf der linken Wange. Auch Blackfacing könnte helfen. Oder sie geht im Karneval als Indianer-Squaw. Ansonsten ist Mode ganz wichtig, dann also her mit dem lottrig sitzenden Blaumann und den Springerstiefeln. Ergänzend müsste sie dann noch klar zum Ausdruck bringen, dass ihr die Gendersprache absolut auf den Keks geht und sie privat auf Machos steht. Das alles könnte sie bei gleichbleibender Nicht-Leistung zwei, drei oder gar vier Plätze im Politbarometer kosten. Vor Wagenknecht und Weidel bliebe sie aber immer noch mit deutlichem Abstand.

Und bei Habeck, wie kriegen wir ihn vom ersten Platz runter? Vielleicht so: glatt rasiert, Nickelbrille mit Goldrand, viel Gel in den Haaren, natürlich Seitenscheitel, weißes Hemd mit Krawatte, schwarzer Anzug und unterm Sakko ein Gilet. Die schwarze Aktentasche in der Hand nicht zu vergessen. Und dann müsste er natürlich noch sagen, dass die Energiewende sowieso nicht funktioniert, weil die atomaren Backup-Kraftwerke und die Speicher fehlen und dass er im Übrigen ein deutscher Patriot und heimlicher Fan von Franz-Josef Strauß sei.

Ja, das könnte wirken, Habeck fällt zurück auf Platz 4 (vor allem wegen seiner Sympathien für Strauß und weil man von einem perfekt gescheitelten Minister auch gescheite Sätze erwartet), knapp vor Baerbock auf Platz 5. Der Hauptgrund ist hier der schlechtsitzende Blaumann, denn auf das, was sie sagt, hört man ohnehin nicht. Es ist sozusagen „egal“, weil es ja regelmäßig nicht so gemeint war, wie es gesagt wurde.

Wer gehört auf die Spitzenplätze im Politbarometer?

Wer füllt nun aber die Lücken auf den Plätzen 1, 2 und 3 des Politbarometers. Karl Lauterbach oder Nancy Faeser. – Um Gottes willen, da wird’s mit der Leistung auch ganz schwierig. Und mit der Sympathie erst recht.  Könnten denn wenigstens Christian Lindner, Markus Söder oder Friedrich Merz in die Bresche springen? Von der Papierform her eventuell schon, das nützt aber nichts, wenn in der Praxis die Leistung nicht rüber kommt.

Bleiben als Kandidaten tatsächlich nur noch Sahra Wagenknecht und Alice Weidel. Beide scharfsinnig, fachlich versiert und oft auch rhetorisch brillant (und das muss man konstatieren unabhängig davon, ob man ihrer jeweiligen politischen Verortung nahesteht oder nicht): Frauenpower, die sich auf die kritische Vernunft stützt und das in der Realität Erreichbare in den Blick nimmt. Das wäre ein rationaler Feminismus, der nicht ansatzweise in den Verdacht geriete, als Camouflage für nicht vorhandene Inhalte herhalten zu müssen. – Die können’s aber nicht werden, weil sie in den falschen Parteien sind. Und welches die richtigen Parteien sind, das entscheiden die Medien und die notorisch sich über jede Petitesse echauffierenden „woken“ Neosozialisten von der links-illiberalen Einheitsfront.

Das Ziel der Umfrage bestimmt ihr Ergebnis

Vielleicht sollte man generell die Frage des Politbarometers variieren oder sogar umdrehen. Also nicht, welcher Politiker ist besonders sympathisch und bringt die beste Leistung, sondern, welcher Politiker ist seinem Amt am wenigsten gewachsen und daher eine ärgerliche Fehlbesetzung? Es wäre den Versuch wert, die Frage des ZDF-Politbarometers entsprechend abzuwandeln und somit konkret nach dem unbeliebtesten und leistungsschwächsten Politiker zu fragen. In einer solchen Umfrage hätten Habeck und Baerbock sicher ebenfalls gute Chancen auf die vorderen Plätze. Und die hätten sie in diesem Falle auch verdient.

Das neue ZDF Politbarometer vom 29. Februar 2023. Die unbeliebtesten und leistungsschwächsten Politiker.

Warum kann man davon ausgehen, dass die „Spitzenplätze“ auch in diesem Fall an Habeck und Baerbock gehen würden? Ganz einfach, wenn man nach Politikern fragt, dann fallen einem natürlich die Bekanntesten und am stärksten für Polarisierung Sorgenden zu allererst ein. Es ist nicht so entscheidend, ob man dabei die Frage mit einem positiven oder einem negativen Attribut oder Werturteil verknüpft. Und wie wir oben gesehen haben, spielt die objektiv messbare Leistung – deren Bewertung eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Fragestellung erfordern würde – im Allgemeinen eher eine untergeordnete Rolle.

Der Wähler bekommt die Politiker, die er verdient

Wie oben schon erwähnt, wurden die zu beurteilenden Politiker demokratisch gewählt. Der Wähler hat sich also direkt oder indirekt – im Allgemeinen eher Letzteres – für sie entschieden. Sie sind gewissermaßen sein Produkt. Nun sind sie also da und liefern das, was die mediale Öffentlichkeit vor allen anderen Dingen erwartet: Moralismus, Symbole, Haltung und Werte. Umgekehrt sind die Wähler (bzw. das Denken der Wähler) das Produkt der Politik und der Medien. Es ist eine Beziehung auf Gegenseitigkeit. Wähler und heutiger Politikertypus bedingen einander. Bei keiner Partei ist das offensichtlicher als bei den Grünen (s. Es grünt so grün). Zugleich sind die Grünen die Haupttreiber dieser Entwicklung weg von der Sachpolitik und hin zur Haltungspolitik.

Die Politik und fast die komplette Medienlandschaft haben sich der Kraft der Emotionen verschrieben und betreiben solchermaßen eine Infantilisierung der Gesellschaft. Dazu gehört zu vor allem die Moralisierung jeglicher Sachfragen. Immer häufiger geht es darum, Zeichen zu setzen, Haltung zu zeigen, für Werte einzutreten. Die auf pragmatische Lösungen fokussierte, ziel- und vernunftorientierte Realpolitik steht nicht hoch im Kurs.

Die Medien, und damit untrennbar verbunden, die Wähler, goutieren richtiges, und das heißt fast immer moralisches, besser gesagt, moralisierendes Politikerverhalten, und sie ereifern sich über die bloß strikt am Primat der Vernunft orientierten Entscheidungen. Letztere werden gar nicht erst rational beurteilt, man zerrt sie vielmehr auf die Ebene der Moral, genauer, der Scheinmoral, und delegitimiert sie damit.

Die simple Regel ist: Alles, was sich gegen den moralisierenden Zeitgeist richtet, nennt man undemokratisch, auch wenn die zugrundeliegende Handlung im konkreten Fall mit Demokratie im engeren Sinne nichts zu tun hat. Wenn das als Verdikt noch nicht genügt, dann werden, je nach Sachbezug, auch stärkere Geschütze aufgefahren: rassistisch, rechts, faschistisch, neoliberal, frauenfeindlich, homophob, und was der Adjektive mehr sind.

Von extremen Ausnahmen absoluter Ungeeignetheit für das Amt einmal abgesehen (wie z.B. im Falle Lambrechts), spielt daher die objektive, an den Inhalten gemessene Leistung eines Politikers im Allgemeinen eher eine untergeordnete Rolle. Und deswegen ist die Rangliste der Politiker nach Leistung und Sympathie so, wie sie uns im Politbarometer monatlich vorgesetzt wird.


Quelle: Politbarometer – ZDFmediathek
Bildnachweis
  • Aufmacher: Collage aus Bildern zum ZDF-Politbarometer (C) ZDF, Autor
  • Bild 1, 2: ZDF-Politbarometer (C) ZDF
  • Bild 3: Kreiert aus ZDF-Politbarometer (C) ZDF, Autor

Es ist nicht egal, Frau Baerbock

Wenn es nicht egal ist, was ist es dann? Töricht? Fahrlässig? Unbedacht? Hat sich Baerbock hier eine schlimme Entgleisung geleistet? Oder ist alles nur Desinformation?

Wir werden sehen.

Jedenfalls kann man an diesem Beispiel sehr gut nachvollziehen, wie professionelle Tatsachenverdrehung und Desinformation gepaart mit Meinungsmanipulation ganz subtil funktionieren.

Was ist geschehen? – Baerbocks entscheidende Sätze

Da äußert die deutsche Außenministerin Baerbock auf einem Treffen in Prag vor internationalem Publikum folgende Sätze (Übersetzung aus dem Englischen von Telepolis):

Aber wenn ich den Menschen in der Ukraine zugleich das Versprechen gegeben habe: Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht – dann möchte ich es einlösen, egal, was meine deutschen Wähler denken.

Wir werden an der Seite der Ukraine stehen, und das bedeutet, dass die Sanktionen auch im Winter bestehen bleiben, auch wenn es für die Politiker sehr hart wird.

Wir müssen in ganz Europa eine gute Lösung finden, um die sozialen Auswirkungen auszugleichen …

Wir müssen die Antworten geben: Wir sind mit jedem in unserem Land solidarisch, so wie wir mit jedem in der Ukraine solidarisch sind.

Baerbock auf dem Forum 2000 in Prag (01.09.2022), YouTube.

Die Reaktion auf Baerbocks Aussagen

Hohe Wellen schlägt insbesondere der Halbsatz „egal, was meine deutschen Wähler denken„. Er lässt für viele nur die Interpretation zu, die Menschen in der Ukraine seien Baerbock wichtiger als die deutschen Bürger. Oder, sie pfeife auf die Meinung der Wähler.

Die erste Verfälschung und vermeintliche Desinformation

Über Twitter wurde die folgende Version verbreitet: I will put Ukraine first „no matter what my German voters think or how hard their life gets. Daneben wurde das Video vom Auftreten Bearbocks so geschnitten, dass die kompromittierenden Aussagen nacheinander zu hören waren.

Der wörtlich gefallene Halbsatz steht in Anführungszeichen. Der Vorspann dazu beschreibt den Kontext im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine. Dieses „Ukraine first“ hat Baerbock so zwar nicht wörtlich gesagt, es ist aber keinesfalls grob sinnentstellend wiedergegeben, wie man den obigen Zitaten entnehmen kann. Es ist eine rhetorische Zuspitzung.

Und was bedeutet das?

Durch die Wendung „egal, was meine deutschen Wähler denken“ wird zweierlei zum Ausdruck gebracht: Erstens wird damit betont, ich bleibe dabei (also bei der Unterstützungszusage für die Ukraine), auch wenn meine deutschen Wähler, und damit alle Wähler und somit letztlich die Menschen in Deutschland anderer Meinung sind. Die Unterstützungszusage ist offenbar dem Urteil des Wählers übergeordnet. Die Kaskade gilt deswegen, weil Baerbock als Amtsträgerin spricht, nicht als Parteipolitikerin. Das ist der gutartige Teil, weil er für die Festigkeit des politischen Urteils steht.

Zum Zweiten bedeutet dies aber auch, dass die Empfänger der Unterstützungsleistung in irgendeiner Weise einen höheren Stellenwert genießen. Wäre er gleich oder niedriger, so würde man die Wähler überhaupt nicht erwähnen oder z.B. formulieren: „bin mir sicher, meine deutschen Wähler sehen das auch so“ bzw. „vorausgesetzt, meine deutschen Wähler sehen das auch so„.

Die Priorität (Ukraine first) wird somit ganz klar zum Ausdruck gebracht. Da hilft es auch nicht, wenn Baerbock zum Schluss ihres Statements deutschen Mitbürgern die gleiche Solidarität wie Ukrainern zusichert. Auch diese Aussage verdreht in grotesker Weise die Prioritätenreihenfolge. Auf Basis ihres Ministereids hat sie von Amts wegen zu allererst für deutsche Bürger Sorge zu tragen. Da gibt es keinen Spielraum.

Worin liegt Baerbocks Fehler?

Selbstredend ist es Frau Baerbock unbenommen, der Ukraine Unterstützung zuzusichern. Das ist eine politische Entscheidung, die man zwar mit dem aus ihrer Aussage sprechenden Absolutheitsanspruch nicht teilen muss, aber darum geht es hier nicht. Der entscheidende Punkt ist die von Baerbock unnötigerweise hergestellte Beziehung zwischen dem Willen deutscher Wähler und den Interessen der Ukrainer in Verbindung mit dem von ihr ausgesprochenen Primat der Ukraine.

Wir haben eine repräsentative Demokratie und in einer solchen sind gewählte Politiker zwischen den Wahlen im strengen Sinne nur ihrem Gewissen verantwortlich. Jedenfalls sind Volksabstimmungen über derartige Fragestellungen nicht vorgesehen. Formal darf sich Baerbock daher sogar über das Befinden der Wähler hinwegsetzen, sofern sie das politisch für richtig hält. Das ist aber ersichtlich etwas anderes, als den Wählerwillen offen als irrelevant abzutun.

In dieser krassen Form ist das ist eine beispiellose Respektlosigkeit gegenüber dem demokratischen Souverän. Ein solches Denken ist im Kern undemokratisch. Sie schadet damit der Demokratie und im Übrigen auch der Akzeptanz der von ihr verfolgen Politik.

Die zweite Verfälschung

Der über soziale Medien verbreitete Zusatz „(no matter) how hard their life gets“ ist verfälscht und in dieser Form nicht gefallen. Wie oben zitiert, hat sie dabei darauf abgehoben, dass die Sanktionen bestehen bleiben, „auch wenn es für die Politiker sehr hart wird„. Das ist natürlich etwas anderes als die Aussage, „auch wenn es für die Menschen sehr hart wird„.

In diesem Fall kann man schon von einer Verfälschung sprechen. Man muss sich aber dennoch fragen: Wird dadurch die Kernbotschaft „egal, was meine deutschen Wähler denken“ signifikant verändert? Ich meine, nein. Sie wird unterstrichen und graduell schärfer, aber nicht in ihrer Grundaussage verändert.

Das ist also der Vorgang. Worin liegt nun die Desinformation?

Zunächst gibt der Tweet Baerbock im strengen Sinne fraglos verfälscht wieder, weil der Zusatz so nicht wörtlich gefallen ist. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt, weil aus dem Kontext heraus die Rede eindeutig in diese Richtung geht. Das kulminiert in der unbestreitbar korrekt zitierten Kernaussage „(will die Ukraine unterstützen), egal, was meine deutschen Wähler denken“ und wird gestützt durch die weiteren Sätze:

1. Die „Sanktionen (bleiben) auch im Winter bestehen (…), auch wenn es für die Politiker sehr hart wird“ (was ja nichts anderes heißt als, auch wenn die Menschen dagegen aufbegehren).

2. Wir sind mit jedem in unserem Land solidarisch, so wie wir mit jedem in der Ukraine solidarisch sind.“ (wozu schon oben angemerkt wurde, dass dies die Verpflichtung Baerbocks als einer deutschen Amtsträgerin auf den Kopf stellt).

Mein Resümee: Im Wesentlichen handelt es sich um keine Desinformation, sondern um pointierte Zuspitzungen, die aber den Sinn des Gesagten nicht grob verfälschen.

Dennoch gibt es bei diesem Vorgang auch eine Desinformation. Sie kommt fataler Weise vom Außenministerium selbst.

Die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes

Vom Sprecher des Auswärtigen Amtes, Peter Ptassek, wurde folgende Stellungnahme verbreitet:

Der Klassiker: Sinnenstellend zusammengeschnittenes Video, geboostert von prorussischen Accounts und schon ist das Cyber-Instant-Gericht fertig, Desinformation von der Stange. Ob wir uns so billig spalten lassen? Glaube ich nicht.“

Ein Ablenkungsmanöver

Das Auswärtige Amt macht aus dem Vorgang also kurzerhand eine prorussische Desinformation und will die Sache damit ad acta legen. Nach dem Motto, bloß keine Wellen schlagen, die Sache einfach als Falschmeldung oder eben als gezielte Desinformation darstellen. Angesichts der unbestreitbaren Fakten entlarvt sich dieser Ansatz indessen von selbst als billiges Ablenkungsmanöver.

Das verbreitete Video ist verändert, aber nicht grob sinnentstellend verfälscht. Frau Baerbock hat die Ursache gesetzt, das kann man nicht wegdiskutieren. Auch nicht mit dem Hinweis auf eine eventuelle oder vielleicht erwiesene Beteiligung der russischen Propaganda.

Desinformation kommt mitunter von der „falschen“ Seite

Der oder die Verbreiter der Botschaft haben ohne Zweifel dafür gesorgt, dass Baerbocks Aussagen schnell und wirksam über die sozialen Medien gestreut wurden. Ansonsten wären die Äußerungen vielleicht sogar untergegangen. Der resultierende „Flächenbrand“ an öffentlicher Erregung wäre ohne den propagandistischen Brandbeschleuniger vielleicht gar nicht entstanden. Das ändert aber nach wie vor nichts an den Fakten. Es wäre fatal, wenn wir dazu übergingen, Tatsachen gewissermaßen automatisch zu ignorieren, wenn wir über uns nicht genehme Quellen darüber erfahren.

Deswegen liegt die eigentliche und für die Demokratie gefährliche Desinformation in dieser Sache meiner Meinung nach auf Seiten des Außenministeriums. Richtig wäre es gewesen, dem Fehler mit einer Entschuldigung und Berichtigung betreffend der Wortwahl die Spitze zu nehmen.

Zusammenfassung

Man kann es drehen und wenden wie man will, der Halbsatz: „egal, was meine deutschen Wähler denken“ ist genau so gefallen und lässt nur die Interpretation zu, die Menschen in der Ukraine seien ihr wichtiger als die deutschen Bürger. Da hilft es auch nicht, wenn sie zum Schluss ihres Statements deutschen Mitbürgern die gleiche Solidarität wie Ukrainern zusichert. Auch diese Aussage verdreht in grotesker Weise die Prioritätenreihenfolge. Auf Basis ihres Ministereids hat sie von Amts wegen zu allererst für deutsche Bürger Sorge zu tragen.

Nein, das alles kann man nun nicht mehr lapidar als Flapsigkeit oder als unkluge Äußerung beiseite wischen. Unklug ist es gewiss (wie leider nicht wenige ihrer Statements zuvor), es damit geschwind abzutun und einfach zur Tagesordnung überzugehen wäre aber verfehlt. Der Hinweis des Auswärtigen Amtes auf eine angebliche prorussische Desinformation entlarvt sich dabei von selbst als billiges Ablenkungsmanöver. Frau Baerbock hat die Ursache gesetzt, das kann man nicht wegdiskutieren.

Bewertung

Es ist keine Petitesse, sich derart respektlos über das Denken und Befinden der Menschen hinwegzusetzen. Als Repräsentantin des Staates schuldet Baerbock zu allererst dem demokratischen Souverän, also dem deutschen Volke, Verantwortung und Respekt. Beides lässt sie hier vermissen. Das macht fassungslos! Unabhängig von ihren politischen Überzeugungen über Richtig und Falsch im Hinblick auf die Ukraine schadet sie damit der Demokratie.

Entweder hat Frau Baerbock ihre Worte nicht im Griff und redet einfach nur gedankenlos dahin, dann wäre ihre Wortwahl nur töricht zu nennen. – Was überhaupt könnte für einen Diplomaten disqualifizierender sein?

Oder sie meint tatsächlich, was sie sagt, dann stellt sie damit die Interessen der Ukraine über die Interessen deutscher Bürger.

Gleich wie es sich verhält, beides ist inakzeptabel. Baerbock erweist sich einmal mehr als für ihr Ministeramt ungeeignet.

Dieses Resümee müsste man im Übrigen auch dann ziehen, wenn es sich um einen Herrn Baerbock aus der FDP oder der CDU handelte.


Quellen:

[1]: Video von Baerbocks Auftritt Baerbock: ,,no matter what my German voters think“ | Kein Ende der Sanktionen | Forum 2000

[2]: Artikel in der WELT https://www.welt.de/politik/ausland/article240801361/Baerbock-Regierung-steht-an-der-Seite-der-Ukraine-egal-was-meine-deutschen-Waehler-denken.html

[3]: Telepolis / BR Faktenfuchs https://www.heise.de/tp/features/Baerbock-und-die-Desinformationskampagne-Aber-sie-hat-es-doch-gesagt-7252010.html

[4]: Telepolis / Übersetzung der Rede https://www.heise.de/tp/features/egal-was-meine-deutschen-Waehler-denken-7251576.html

[5]: Bericht im Merkur https://www.merkur.de/politik/annalena-baerbock-ukraine-versprechen-egal-waehler-kritik-afd-linke-cdu-weidel-roettgen-news-zr-91761720.html

[6]: Kommentar im Merkur https://www.merkur.de/politik/baerbock-ukraine-zitat-deutsche-waehler-kritik-aussenministerin-kommentar-91764950.html