Soll man heute noch Wirtschafts­wissen­schaften studieren?

Die Wirtschaftswissenschaft ist die einzige „Wissenschaft“, in der man sowohl für die Formulierung einer Theorie als auch deren Widerlegung den Nobelpreis bekommen kann. – Das sagt nicht alles, aber schon vieles und ist letzten Endes dann doch noch harmlos:  So gibt es z.B. politisch überkorrekte Disziplinen wie die „Genderforschung“ (allein in Deutschland kann man fast 200 Professuren zählen). Dabei handelt es sich um eine Art „säkularer Theologie“ auf der Basis von vorwissenschaftlichen Glaubensgrundsätzen. Verglichen damit ist BWL eine exakte Wissenschaft.

Letzten Endes befindet sich die Wirtschaftswissenschaft in „guter“ Gesellschaft mit anderen (Geistes- und Sozial-) „Wissenschaften“ die sich gerne als solche bezeichnen, die aber zumindest nicht in der gleichen Liga spielen wie die Natur- und Ingenieurswissenschaften und insbesondere die Mathematik (nehmen wir als Platzhalter einfach das Akronym MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Worin liegen die wesentlichen Unterschiede? Ich denke, es gibt drei ganz wichtige Gesichtspunkte.

  1. Methodik.
    In den MINT-Disziplinen haben wir einen definierten und allgemein anerkannten sich evolutionär – manchmal auch disruptiv – erweiternden Satz von beweisbaren (im Sinne von funktionierenden und sich nicht widersprechenden) Methoden zur Lösung von Teilproblemen. Die Geistes- und Sozial-Wissenschaften, zu denen ich die Wirtschaftswissenschaften rechne, verfügen zwar ebenfalls über gewisse methodische Ansätze, meist beschränken sich diese aber auf die deskriptiven Aspekte. Sie können nichts oder nur wenig erklären, also Beobachtungen zwingend auf Ursachen zurückführen. Zum Teil auch deswegen, weil es diese einfachen kausalen Beziehungen in vielen Fällen gar nicht gibt.


  2. Objekt (der Betrachtung).
    In den MINT-Disziplinen kommt dem untersuchten Gegenstand (axiomatischer Rahmen der Mathematik, digitale Welt, unbelebte und belebte Natur, Technik) gewissermaßen eine objektiv existierende oder gestaltbare Realität zu, die im Grundsatz unabhängig vom Betrachter über einen Satz von beobachtbaren Eigenschaften verfügt (Der Begriff der „objektiv bestehenden Realität“ ist schwierig und angreifbar, sehen wir einstweilen darüber hinweg). Ganz anders bei den Geistes- und Sozial-Wissenschaften. Das Objekt der Untersuchung sind wir selbst. Können wir aus der Innenperspektive heraus objektiv von außen auf uns selbst blicken? Nein! Wir existieren nicht unabhängig von uns selbst, von unserem eigenen Denken. Nach Descartes („Cogito ergo sum“) ist das Denken selbst gewissermaßen die Voraussetzung für unsere Existenz. Wir können über uns selbst reflektieren, wir können dabei aber keine objektiven Wahrheiten zutage fördern. Wir sind vernunftbegabte Wesen, wir verhalten uns aber nicht selten im Widerspruch zur Ratio. Beispiel: Das lange als gültig betrachtete wirtschaftswissenschaftliche Paradigma des rational handelnden Marktteilnehmers ist längst als Schimäre entlarvt.


  3. Resultate.
    MINT: Erkenntnisse über die gemäß 2 charakterisierten Gegenstände werden mittels Beobachtung und/oder Experimenten gewonnen und sind in aller Regel beliebig reproduzierbar, deswegen lassen sich im Verein mit Punkt 1 Modelle über die interessierenden Weltausschnitte erstellen, mit deren Hilfe zutreffende Ursache-Wirkungsbeziehungen (Vorhersagen) formuliert werden können. Darin liegt die große Stärke der Naturwissenschaften, der Technik und der Mathematik. – In den Geistes- und Sozial-Wissenschaften gibt es nur selten Reproduzierbarkeit. Modelle über die Realität sind in der Regel nicht verallgemeinerbar und gelten nur für den ganz speziellen Fall, für den sie geschaffen wurden. Im Ergebnis stehen Vorhersagen für zukünftige Ereignisse auf wackligen Beinen. Hinzu kommt die durch Prognosen hervorgerufene mögliche und sogar wahrscheinliche Beeinflussung künftigen Verhaltens. Der Hinweis auf den Aktienmarkt mag als Beleg genügen. Ich denke, man kann ganz allgemein ein paradoxes Prinzip formulieren: Ereignisse und Verhalten, die der Mensch selbst beeinflussen kann, entziehen sich der Vorsehbarkeit. Resümee: Die Geistes- und Sozial-Wissenschaften sind i. A. nicht in der Lage, zutreffende Ursache-Wirkungsbeziehungen abzuleiten und schlüssig darzulegen. Genau das ist ihre große Schwäche.

Vielleicht wird der eine oder andere hier die Messbarkeit als Unterscheidungsmerkmale vermissen. Messbarkeit ist KEIN Kriterium für eine exakte Wissenschaft. Die minimale Voraussetzung für sinnhaftes wissenschaftliches Arbeiten ist Unterscheidbarkeit: Der Gegenstand der Betrachtung muss abgrenzbar sein und er muss sich in irgendeiner Weise in unterscheidbare Teile (in allgemeinster Form also Elemente, Fragmente, Objekte, Subjekte, Ideen, …) gliedern lassen. Ist dies gegeben und können zudem den Teilen Eigenschaften zugewiesenen werden (mathematisch gesehen entspricht dies der Definition einer abstrakten Abbildung \(f\) aus dem Gegenstandsraum \(G\) auf einen Zielraum \(E\), den wir Eigenschaftsraum nennen), so haben wir bereits alle nötigen Zutaten für eine exakte Wissenschaft. Z.B. können dann schon Aussagen der Art „Teil A steht zu Teil B in der Beziehung X“ getroffen werden. Der Grad der erreichbaren Exaktheit ist vor allem eine Funktion des in die Strukturierung gesteckten Aufwandes. Exaktheit heißt ja nicht, dass Ergebnisse auf \(n\) Stellen nach dem Komma angegeben werden können. Ein exaktes wissenschaftliches Ergebnis kann genauso gut in einer wahren aber zahlenlosen Aussage stecken. Ein Beispiel: Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist konstant.

Messbarkeit ist ein spezifischerer Begriff und hängt ab vom Charakter der o.g. Abbildung \(f\) und der besonderen Struktur des Eigenschaftsraums \(E\). Ist letzterer ein (endlicher oder unendlicher) Zahlenraum, so können wir von Messbarkeit reden. – Das erscheint vielleicht abstrakt, ist aber bereits entschärft. Die abstrakt-mathematische Definition von Messbarkeit ist viel komplexer.

Dazu noch ein Zitat des Aufklärers und Aphoristikers Georg Christoph Lichtenberg: „Ich glaube, dass es, im strengsten Verstand, für den Menschen nur eine einzige Wissenschaft gibt, und diese ist reine Mathematik. Hierzu bedürfen wir nichts weiter als unseren Geist.“ Oder, etwas profaner und gleichzeitig provokativer: „… alles andere ist eine Mischung aus Handwerk und Stochern im Nebel“.

Trotz der o.g. Punkte kann  man dennoch konstatieren: Gerade Betriebs- und Volkswirtschaft sind Generalistenstudiengänge par excellence, idealerweise gepaart mit einem technologischen Schwerpunkt (z.B. Informatik). Jura dagegen ist ein eher eindimensionales Studium, in dem das reale Leben praktisch nicht vorkommt und versucht wird, die Welt in ein Schema von Regeln zu pressen. Die Tatsache, dass Juristen nicht selten Karriere in Politik und Wirtschaft machen hat m.E. weniger mit dem Inhalt des Jurastudiums zu tun, als vielmehr mit einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung: Wir glauben, alles müsse geregelt sein und haben es verlernt, Freiräume konstruktiv und konsensual zu gestalten. Im Ergebnis bekommen wir immer mehr Reglementierung und wundern uns, dass wir aus dem Gestrüpp der sich widersprechenden Vorschriften und Regeln ohne rechtskundige Spezialisten, die doch das Dickicht selbst angelegt haben, nicht mehr herausfinden. – Alles klar? (Nein, das ist keine Anmache; das ist der kürzeste Juristenwitz)

Generell darf man nicht erwarten, im Studium einen festen Satz von unabänderlichen methodischen Vorgehensweisen und Modellen zu erlernen, die im späteren Berufsleben dann stur angewendet werden. In meinem Verständnis dient ein Studium vor allem dazu, selbstständiges und kritisches Denken einzuüben. Die erlernten Modelle und Methoden verstehe ich als Exempel. In der Mathematik liegt der Schwerpunkt im Abstrakt-Theoretischen, worin zweifellos große Potentiale im Hinblick auf vielfältige Anwendungsbereiche liegen. Allerdings ist hier der Transferaufwand in aller Regel vergleichsweise hoch. Viel näher an den realen Problemen ist man in den Wirtschaftswissenschaften, fertige Lösungen und Rezepte darf man gleichwohl auch hier nicht erwarten.

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