Einleitung
Das hochkomplexe Verhalten von Tieren in großen Gruppen versetzt den aufmerksamen Beobachter immer wieder in Erstaunen. Im Spätsommer gewahrt der Blick in den Himmel Schwärme von Zugvögeln, die, scheinbar wie auf ein Kommando, in rascher Folge die Richtung wechseln und dabei auch schwierige Flugmanöver ganz ohne Kollisionen meistern. Gelegentlich lässt sich ein Schwarm, als hätten alle Vögel gemeinsam genau dieses Ziel lange schon untereinander „abgestimmt“, zum Zwischenstopp auf einer elektrischen Überlandleitung nieder, nur um nach einer geschwätzigen Ruhepause alle zugleich munter zum Flug anzuheben und ebenso gewandt wie verlässlich die ursprüngliche Schwarmformation wieder einzunehmen.
Auf äußere Einflüsse, z.B. die Anwesenheit von Fressfeinden, reagiert die Formation als Ganzes, scheinbar als koordinierte Einheit. Gerade so, als gäbe es einen Plan des Schwarms, wie mit derlei Störungen umzugehen sei. Aus Sicht des Beobachters gehen die Einzelindividuen im Schwarm auf und verleihen ihm so quasi wesenhafte Existenz.
„Intelligente“ Fischschwärme
Noch eindrucksvoller, ist das Verhalten von Fischschwärmen: Blitzartige Bewegungen von tausenden Fischen auf engstem Raum lassen den Eindruck entstehen, es handele sich um ein einziges riesiges Individuum. Beim Angriff von Räubern zeigen Fischschwärme vielfach sehr komplexes Verhalten. Manche Arten teilen den Schwarm und bieten dem Angreifer so zwei divergierende Ziele, zwischen denen er sich entscheiden muss. Andere strömen plötzlich mit hoher Geschwindigkeit auseinander und lassen den Schwarm quasi explodieren: Der Angreifer stößt ins Leere. Nochmals andere vollziehen augenblicklich rasche Ausweichmanöver und bringen sich, zur Desorientierung des Angreifers, hinter denselben.
So verschieden die Strategien auch sein mögen, allen Arten gemein ist ein dem Wohle der Gesamtheit der Individuen (des Schwarms) höchst zweckdienliches Verhalten. Der einzelne Schwarmfisch verhält sich offenbar so, dass nicht nur er selbst, sondern dass die Gemeinschaft aller Individuen möglichst wenig gefährdet wird.
Schwarmverhalten bei Säugetieren
Auch manche Säugetierarten zeigen Schwarmverhalten: Wölfe organisieren sich in Rudeln und steigern so ihre Erfolgschancen bei der Jagd. Ein gleiches beobachtet man bei Löwen, die ebenfalls in der Gruppe jagen. Ihre potenziellen Opfer wiederum, z.B. Antilopen oder Gazellen, leben zusammen in Herden und zeigen beim Angriff ihrer Feinde ein abgestimmtes Fluchtverhalten, das dem Löwenrudel die Trennung eines einzelnen Tiers von der Herde erschwert und damit die Überlebenswahrscheinlichkeit der Einzelindividuen erhöht.
Schwarmintelligenz bei Bienen
Die bemerkenswertesten Beispiele von Schwarmintelligenz finden sich bei einer Reihe von Insektenarten, z.B. bei Ameisen oder Bienen. Das vielgestaltige Sozialverhalten von Bienenvölkern mit einigen zehntausend Individuen ist ein Musterbeispiel für Schwarmintelligenz. Die Nahrungssuche, die Brutpflege, die Verteidigung des Bienenstocks werden zum Wohle des ganzen Volkes arbeitsteilig organisiert. Es verwundert, dass dies alles ganz ohne eine koordinierende Instanz möglich ist.
Mittels ausgefeilter Bewegungsmuster tauschen die Bienen untereinander Informationen aus: So dient der bekannte Schwänzeltanz zum Anzeigen von neuen Futterquellen. Andere Ausdrucksmöglichkeiten erlauben ihnen die Verständigung hinsichtlich der Erledigung einer Reihe von weiteren für den Stock wichtigen Aufgaben.
Die einzelne Biene kann man kaum als intelligent bezeichnen. Und doch entsteht durch das einigen wenigen einfachen Regeln gehorchende geordnete Zusammenwirken ein komplexes Gesamtgebilde hoher Effektivität. In dieser Hinsicht unübertroffen erscheinen Ameisenstaaten mit bis zu mehreren Millionen Individuen. Sie faszinieren in ihren perfekt durchorganisierten, hochkomplexen Abläufen.
Der Ameisenstaat als Ausdruck von Schwarmintelligenz
Im Ameisenstaat erledigen Gruppen von Individuen unterschiedliche Aufgaben: Die Nahrungssuche, der Transport von Nahrung oder Baumaterial, die Wegesicherung, der Nestbau oder die Brutpflege, und vieles andere mehr. Dabei ist jeweils eine gewisse Anzahl von Arbeiterinnen auf bestimmte Tätigkeiten spezialisiert. Ändern sich die Umgebungsbedingungen, dann passt sich der Staat darauf sehr schnell und zielgerichtet darauf an. Werden aufgrund von zerstörenden äußeren Einwirkungen z.B. mehr Individuen für die Nestpflege (den „Wiederaufbau“) benötigt, so stellt ein gewisser Anteil von Ameisen die bisherige Tätigkeit ein und widmet sich den vorrangig wichtigen Reparaturarbeiten am Bau. Auch dies ohne Zutun einer Managementinstanz.
Was ist Schwarmintelligenz?
Zusammenfassend betrachtet ist genau dies das hervorstechende Merkmal des Phänomens Schwarmintelligenz: Die Dinge geschehen ohne zentrale Koordination und dennoch zielgerichtet und wirkungsvoll. Das führt uns unmittelbar zur Frage, auf Basis welch anderer Mechanismen die durchaus vielschichtigen Aufgaben mit solch hoher Effizienz bewältigt werden können?
Wie entsteht Schwarmintelligenz?
Schwarmindividuen, wie wir sie in der Natur beobachten, sind meist recht einfach, wenig intelligent und alleine nicht in der Lage, komplexe Aufgaben zu bewältigen. Trotzdem gelingt es ihnen durch das Zusammenwirken im Schwarm, auch schwierige Herausforderungen zu meistern. Wir haben oben einige Beispiele dazu gesehen. Die Regeln zum Beschreiben von komplexem Schwarmverhalten sind überraschend einfach. Am Beispiel von Fischschwärmen sei dies kurz erläutert. Nach {Reynolds] sind hier im Wesentlichen nur drei Prinzipien bestimmend:
– Einhaltung eines bestimmten Abstands zum Nachbarn (Separation)
– Bewegung in die durchschnittliche Richtung der Nachbarn (Alignment)
– Anstreben der durchschnittlichen Position der Nachbarn (Cohesion)
Die zugrundeliegenden Regelmechanismen sind nach Struktur und Abhängigkeit für die unterschiedlichen Arten höchst verschieden. Fast immer aber lässt sich zeigen, dass das Gesamtverhalten des Schwarms letztlich auf die individuelle und lediglich lokalen Einflüssen unterliegende Befolgung von wenigen Grundsätzen zurückgeführt werden kann.
Die Wirkung der drei Grundprinzipien am Beispiel des Ameisenstaats
Ameisen z.B. hinterlassen bei der Suche nach Nahrungsquellen Duftspuren (sogenannte Pheromone). Natürlich verflüchtigen sich diese Spuren im Laufe der Zeit. „Je öfter aber eine oder mehrere Ameisen innerhalb eines kurzen Zeitraums auf demselben Weg gehen, umso intensiver ist diese Markierung. Dies führt dazu, dass immer mehr Ameisen diesen Weg benutzen, dabei erneut Pheromone hinterlassen und weitere Nahrung in den Bau transportieren, bis die Quelle erschöpft ist. Ein kurzer Weg zu einer guten Nahrungsquelle wird also bevorzugt, da die Pheromonspur hier besonders intensiv ist.
Für einen großen Ameisenstaat ist das eine sehr effiziente Methode, die ohne Intervention und Management einer einzelnen höheren Instanz auskommt und nur auf lokalen Informationen basiert. Eine einzelne Ameise muss keinen Überblick über alle Vorgänge im Staat haben, um zu entscheiden, an welchem Ort sie nach Nahrung suchen soll. Sie trifft diese Entscheidung allein auf Grundlage der Pheromonspur und dadurch mittels Kommunikation mit anderen Ameisen.“ (zitiert nach Pintscher 2008).
Menschenmengen als Schwärme
Auch große Menschenmengen zeigen unter bestimmten Bedingungen schwarmähnliches Verhalten. Das kann man z.B. beobachten bei Strömen von Fußgängern. In Paniksituationen verhalten sich Menschen weniger wie Einzelwesen, die individuell aufgrund genauer Situationsanalyse zu rationalen Entscheidungen kommen, als vielmehr wie Teile eines großen Ganzen, ähnlich eines gesamthaft agierenden Schwarms. Gegenwärtig sind viele Fragestellungen hierzu noch Gegenstand der Forschung.
Zusammenfassung der Beobachtungen
Das, was der Beobachter als komplexes Verhalten des Schwarms wahrnimmt, lässt sich in Summe verstehen als die Einhaltung von einigen grundlegenden, einfachen Prinzipien durch die Einzelwesen. Wobei eines hinzukommt: Der Schwarm als Ganzes zeigt auf der Makroebene Eigenschaften und Strukturen, die es rechtfertigen, ihn als emergentes System aufzufassen. Das aufgrund lokaler Informationen geregelte Verhalten der Gruppenmitglieder ermöglicht es so der Gesamtheit, Aufgaben zu lösen, die das Vermögen der einzelnen Individuen bei weitem übersteigen. Wir können also in aller Kürze resümieren: Schwarmintelligenz entsteht durch das komplexe und spezifischen Regeln unterliegende Zusammenwirken einer großen Anzahl von Individuen.
Gibt es Schwarmintelligenz beim Menschen?
Nach dem obigen können wir können wir die wesentliche Erkenntnis folgendermaßen formulieren:
Schwarmintelligenz entsteht dann, wenn wenig intelligente („dumme“) Individuen auf Basis simpler Regeln im Hinblick auf ein übergreifendes, die Einsichtsfähigkeit der Schwarmindividuen übersteigendes Ziel im Sinne der Gemeinschaft („Schwarm“) geeignet zusammenwirken.
Schwarmintelligenz beim Menschen – die gibt es nicht. Oder, etwas weniger apodiktisch formuliert, die gibt es nur äußerst selten. Sehr viel häufiger aber trifft man auf deren Gegenteil, die Schwarmdummheit. Noch etwas pointierter: Der einzelne Mensch ist intelligent, die Masse ist strohdoof – und dafür gibt es viele Beispiele. Man denke z.B. an irrationale Hamsterkäufe oder an das Verhalten großer Menschenmengen bei Panik.
Das ist also der springende Punkt: Schwarminteilligenz beim Menchen gibt es deswegen nicht, weil der Mensch schon als individuum intelligent ist.
Fraglos kann ein Team grundsätzlich mehr leisten als ein Individuum, das aber liegt vor allem am Skalierungseffekt und an der Koordination der Zusammenarbeit. Das ist keine Schwarmintelligenz, weil das entscheidende Plus an Arbeitsmenge und höherer Komplexität erst durch das Wirken einer koordinierenden Managementinstanz ermöglicht wird. Das konstruktive Zusammenwirken entsteht nicht quasi von selbst, sondern ist das Ergebnis von Steuerung und Kontrolle.
Schwarmdummheit
Wenn intelligente Wesen konstruktiv zusammenwirken, entsteht das, was intelligente Wesen bewirken können, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es entsteht eine neue Qualität im Hinblick auf die Komplexität und die Menge des Erreichbaren. Es gelingt so aber nicht, ein höheres Intelligenzniveau zu erklimmen.
Übertragen auf den Menschen würde das bedeuten, dass beim Zusammenwirken von Dummköpfen, oder dann, wenn jeder einzelne seine Urteilsfähigkeit hintanstellt, Schwarmintelligenz entstehen könnte. Sofern man den Intelligenzbegriff etwas weiter fasst, ist das tatsächlich der Fall. Manipulierte Massen können Dinge bewirken, die über das Vermögen intelligenter Individuen weit hinaus gehen.
Tausend Intelligente sind so intelligent wie der intelligenteste unter ihnen. Tausend Dummköpfe können die Welt zerstören.
Quellen:
[Bonabeau 1999]: Bonabeau, E./Dorigo, M./Theraulaz, G.: Swarm Intelligence: From Natural to Articial Systems. New York u. a.: Oxford University Press, 1999.
[Dorigo 1996]: Dorigo, M./Maniezzo, V./Colorni, A.: The ant system: Optimization by a colony of coo[1]perating agents. In: IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics Part B, Cyber[1]netics 26 (1996), S. 29-41.
[Kennedy 2001]: Kennedy, J./Eberhart, R.C.: Swarm intelligence. San Francisco: Kaufmann, 2001.
[Partridge 1981]: Partridge, B.L.: Internal dynamics and the interrelations of fish in schools. In: Journal of Comparative Physiology 114 (1981), S. 313-325.
[Reynolds 1987]: Reynolds, C.W.: Flocks, herds, and schools: A distributed behavioral model. ACM. In: Computer Graphics 21 (1987), S. 25-34.
[Pintscher 2008]: Pintscher, L.: Schwarmintelligenz. Seminararbeit Organic Computing. Universität Karlsruhe, 2008.